Kurios. Als ich heute erwachte, fand ich in diesem Moment ein Gefühl von Überresten eines Traums auf meinen Lippen. Ich konnte nicht anders als weiter daran zu denken und verwehrte mir jeden Guten-Morgen-Tweet, bloß weil ich ihn nicht vergessen wollte. Er war nicht auf idyllische Weise schön, und doch hinterließ er eine angenehme Erinnerung in mir. Ich musste darüber schreiben. Auch wenn das, was ich schrieb, nicht eine Nacherzählung dieses Traums ist, ist es stark von ihm inspiriert, ein bisschen weitergedacht, wenn auch anders als ich es mir erträumt hätte.
Egal. Es musste raus. Hier ist es. Schmiegt euch hinein.
Ich begegnete Dir zum ersten Mal auf der Toilette, in derselben Kabine. Du saßest da, schwarz gekleidet wie stets, Dein ausgebeulter, ausgemergelter Rucksack vor Dir auf dem Boden. Draußen, vor der Kabinentür, tobte der übliche Pausenlärm. Ich lehnte an der Tür; Du pudertest Dir Dein Gesicht nach, überdecktest Deine nicht vorhandenen Augenringe. Wir mussten nicht reden um uns zu verstehen.
Dass sie draußen über Dich spotteten, war kaum zu überhören, eigentlich allen in der Oberstufe war es bekannt, selbst den Lehrern – was aber nichts daran änderte, dass Du für sie da draußen nur die Schwuchtel warst, denn mal im Ernst: Wer so feingliedrige Hände hatte wie Du, wer sich so gewählt ausdrückte wie Du, wer als Mann so gepflegt herumlief wie Du, wer so feine Gesichtszüge hatte wie Du, wer sich besser mit den Mädchen verstand wie Du, aber noch nie mit einer Freundin gesehen wurde, der musste doch schwul sein.
Dass Dein so verwegener Dreitagebart das Werk von lediglich vierundzwanzig Stunden war, wussten sie nicht. Er brach das Bild, aber nicht genug, und insgeheim benieden sie Dich sogar darum. Dass Du jeden einzelnen von ihnen mühelos aufs Kreuz legen konntest, wussten sie ebensowenig wie, und wenn es nach Dir ging, sollte es auch so bleiben, auch wenn sie Deine Contenance unwissentlich ignorant mit jedem Tag mehr aushöhlten.
Sie zogen Deinen Rucksack, den Du achtlos auf den Boden fallen lassen hattest, unter der Tür hervor und lachten, als sie ihn mal wieder ausleerten, doch Dir war es egal. Schon lange hattest Du nichts mehr in ihm, was für Dich von irgendeinem Wert war, und Deine Kippen trug immer ich bei mir. Dafür durfte ich mir dann auch mal eine nehmen, wenn wir mal wieder auf dem Klo eine rauchten – und das taten wir oft. Manchmal knutschten wir auch, ganz unverbindlich, wie das gute Freunde so tun, die wirklich alles teilen.
Dass ihr ihn nicht kanntet und auch nicht kennenlernen wolltet, tat mir leid für euch, weil euch so viel entging, weil ihr so viel nicht erleben durftet.
Er hätte alles für euch gegeben, wenn ihr ihn nur akzeptiert hättet, wie er auch alles für seine Freunde tat, egal wann man ihn um Hilfe bat. Wie oft schlich er nachts ins Haus seiner Eltern, um seinen Bruder aus dieser Hölle aus Geschrei und Schlägen zu holen, gegen die das Jugendamt dank eingebrannter Masken machtlos war? Wie oft ging er nachmittags mit Hunden aus dem Tierheim Gassi, obwohl er noch genug Haushalt vor sich hatte, bloß weil er es versprochen hatte? Wie oft hat er euch nicht verpfiffen, wenn ihr die alte Meier, die euch immerhin aufs Mathe-Abi vorbereiten sollte, mal wieder aus dem Raum geekelt hattet? Hm, wie oft?
Habt ihr euch in den letzten Wochen nicht gefragt, wo er war?
Ja, für euch ist es überraschend, dass wir uns jetzt hier an seinem Grab wiedersehen. Für euch kommt das plötzlich. Für uns war das schon seit letztem Jahr nur noch eine Frage der Zeit. Wollt ihr wissen, warum er euch alle, jeden und jede von euch, eingeladen hat? Weil er kein Arschloch war. Deshalb will ich auch kein schlechtes Wort mehr verlieren, nicht mehr, nicht über euch.
Denkt an ihn, mehr will ich nicht, mehr wollte er nicht. Vergesst ihn einfach nicht.