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2016_02.txt | Berg

Das Pro­jekt *.txt geht in die zwei­te Run­de und ich bin wie­der dabei. Ähn­lich zu den Moda­li­tä­ten aus dem letz­ten Jahr stellt Domi­nik Leit­ner uns Teil­neh­men­den zu Anfang jedes Monats ein Wort vor, mit dem wir machen kön­nen, was wir wol­len, solan­ge wir nur schrei­ben. Anders als im letz­ten Jahr, als ich noch kei­nen Plan hat­te, steht die­ses Mal mei­ne Idee schon fest: es ist Dog­ma Pil­len­knick. Film ab! 

Es war nicht mei­ne Idee nach dir zu suchen, zumal ein Blick ins Tele­fon­buch gereicht hät­te, um zu wis­sen, dass du noch immer in dem­sel­ben Haus wohnst, das mir Eltern­haus war, wie es schon für dich und dei­nen Vater und sei­nen Vater Eltern­haus war. Nie hast du die Welt gese­hen, nie bist du wei­ter gekom­men als an den Chiem­see.
„Dei­ne Fan­ta­sie ist viel wei­ter als die Welt je sein kann.“, hast du stets gesagt, wenn wir mal woan­ders Urlaub machen woll­ten als im Wes­ter­wald, und so hat­te mich mei­ne ers­te Rei­se nach dem Abitur an kei­nen gerin­ge­ren Ort als San Fran­cis­co geführt, home of the bra­ve, land of the free; nur weg von dir und aus dei­ner klei­nen Welt woll­te ich, und dass ich kei­nen Rück­flug gebucht hat­te, war eben kein Ver­se­hen, auch wenn ich dir das immer wie­der glau­ben machen woll­te, wenn du auf mei­ne Rei­sen zu spre­chen kamst, ehe ich dann für immer aus dei­nem Leben floh.
Wäre es nach mir gegan­gen, wäre es auch dabei geblie­ben, aber in die­sem Fall ging es nicht nach mir. Immer­hin warst es nicht du.

„If not for you, do it for me.“, hat­te Kat gesagt, und wer war ich, dass ich ihr etwas abschla­gen konn­te. Ich konn­te ihr noch nie einen Wunsch ver­weh­ren und schon gar nicht, wenn sie mich so bet­telnd ansah wie es sonst nur Ran­di, mei­ne Gol­den-Retrie­ver-Dame, tat, wenn sie roch, dass es wie­der Leber­wurst gab – nur dass ich Ran­di wider­ste­hen konn­te. Bei ihr wuss­te ich genau, dass ihr die Leber­wurst nicht bekom­men wür­de, doch wenn Kat mich so anschau­te, dann war all mei­ne Vor­sicht wie weggeblasen.

Ich hat­te schon den Flug gebucht, als Kat rea­li­sier­te, dass ich schon dabei war ihrer Auf­for­de­rung nach­zu­kom­men, und ich konn­te gera­de noch die Hotel­re­ser­vie­rung abschlie­ßen, bevor es ihr gelang den Ste­cker zu zie­hen.
„Tell me about him.“, waren ihre Wor­te und ihre Augen blink­ten mich ent­schlos­sen an. „I won’t let you go until you’ve told me.“
Mein blitz­ar­ti­ger Über­fall­be­such, er war zum Schei­tern ver­ur­teilt noch vor der Ankunft.
„Komm mit!“, sag­te ich nur, stand auf, zog mir mei­ne Jacke an und war­te­te gar nicht erst ab, ob sie mir folg­te. Erst an der nächs­ten Kreu­zung hol­te sie mich ein.

„My father isn’t as char­ming as he makes ever­yo­ne belie­ve.“ Ich weiß es noch genau, das waren mei­ne ers­ten Wor­te, nach­dem wir zehn Minu­ten wort­los durch den Schnee gestapft waren. Die Stra­ßen waren wie leer­ge­fegt; dass es eine Bliz­zard­war­nung gege­ben hat­te, dar­an dach­te ich in die­sem Moment kein biss­chen. Bis ich Mut und For­mu­lie­rung für einen zwei­ten Satz gefun­den hat­ten, waren wir schon ganz woan­ders. Der Schnee hat­te alles flach und erha­ben und weiß gemacht und doch fühl­te es sich so an als wür­de ich einen Berg erklim­men, ohne Seil­schaft, ohne Plan und ohne Ahnung; es war ein ers­tes Mal.
Jedes neue Bild in mei­nem Kopf, jeder Erin­ne­rungs­fet­zen lau­er­te wie eine Tret­mi­ne im Fels und ich kam mir vor, als hät­te ich jede ein­zel­ne von ihnen erwischt. Mei­ne Kind­heit, mei­ne Jugend, mein altes Leben, ein ein­zi­ger krei­schen­der, stü­cki­ger Brei, zwi­schen des­sen fels­ar­ti­gen Frag­men­ten ich zer­malmt wur­de. Ich schnapp­te nur nach Luft und sank auf die Knie. Mehr weiß ich nicht von die­sem Tag. Es soll­te nur ein Vor­ge­schmack des­sen sein, was noch zu kom­men drohte.


Die Hal­den des Reviers sind mein Gebir­ge. Nicht für die Aus­sicht erklim­me ich ihre Gip­fel, son­dern für das Gefühl, es doch noch ein­mal nach oben geschafft zu haben. Und doch: Erst wenn ich oben ste­he und ver­schnau­fe, kann ich sehe, was bereits hin­ter mir liegt, und wohin ich noch gehen muss. So ist es auch mit dir, Jan Fux. Es brauch­te sei­ne Zeit und Mühe, ehe ich wuss­te, wohin dei­ne Geschich­te füh­ren soll, und es kos­te­te mich eini­ges an Kraft, ehe das Gerüst stand, vor das ich dein Leben stel­len kann, doch als es stand, da wuss­te ich mit einem Blick, wie ich die­ses Gebäu­de bau­en und ein­rich­ten kann, und auch wenn die Möbel noch feh­len, sehe ich dich schon dar­in wohnen.

Die­se Gewiss­heit war es, die ich gebraucht habe, um über dich schrei­ben zu kön­nen; mit die­ser Gewiss­heit eil­te ich vom Gip­fel her­ab zum Park­platz, wo ich mei­nen Wagen abge­stellt hat­te. Er sprang nicht an, wie so oft in die­sem kal­ten Früh­ling, der genau­ge­nom­men ein ver­spä­te­ter Win­ter war; doch es war mir gleich,da ich dich schon in der Küche sit­zen sah. Vor mei­nem Augen bekamst du Sta­tur und ein Gesicht, wäh­rend der Anlas­ser vor sich hin orgel­te. Du bekamst Eltern, Groß­el­tern und einen älte­ren Bru­der. Noch bevor ich ihn erblick­te, ließ dein Vater für die Dra­ma­tur­gie sein Leben, womit dei­ne Mut­ter zu einer lang­jäh­ri­gen Allein­er­zie­hen­den wur­de. Du wuchst her­an, nicht chro­no­lo­gisch, son­dern nach Momen­ten sor­tiert, die ich mit dir in Ver­bin­dung brach­te – und wäh­rend du so wur­dest, erwies mir mein lind­grü­ner Diplo­mat einen Gefal­len, sprang an und brach­te mich nach Hau­se.
Als der Motor erstarb, hat­test du ein Leben und ein neu­er Name schweb­te in mei­nem Kopf. Dog­ma Pillenknick.

Ich weiß noch nichts mit ihr anzu­fan­gen, aber ohne sie geht es nicht, das spü­re ich noch jetzt so prä­sent wie vor­hin im Auto.
Dog­ma Pil­len­knick. Wer ist sie? Was macht sie? Und wel­che Rol­le spielt sie für Jan? Ich sehe sie nir­gends, habe nicht ein­mal eine Vor­stel­lung von ihr. Wie passt sie ins Bild?


Sie fügt sich nicht. Wie soll ich mit einer so stör­ri­schen Figur wie ihr arbei­ten? So wie sie wirkt, könn­te sie auch mei­ne Toch­ter sein, aber die … nein, das wäre absurd.
Fik­ti­on ist Fik­ti­on und Rea­li­tät bleibt Rea­li­tät, auch wenn Fik­ti­on und Rea­li­tät sich gegen­sei­tig befruch­ten.
Ich muss raus, zurück in mei­ne Ber­ge, auch wenn der Abend längst schon dräut. Viel­leicht fin­de ich dort oben, wonach ich suche.