Kann es einen besseren Tag als den Tag nach gestern geben, um als alter Weißer Mann anzufangen ungefragt seine unsortierten Gehirnfürze ins Internet zu pusten? … Man muss nicht jede Frage beantworten, und ich als jener, der sich hier gerade selbst einen alten Weißen Mann nannte, selbst wenn er sich mit dieser Beschreibung nur unzureichend getroffen sieht, schon einmal gar nicht. Das liefe der Charakterisierung zuwider.
Viel lässt sich über den heutigen Tag ohnehin nicht sagen, was nicht ohne Worte über den gestrigen Tag auskäme. Ich war wählen, what else. Das Mindeste, was ich tun konnte in dieser Demokratie, das größte Privileg von allen. Zu sagen, es fühlte sich gut an, wäre übertrieben, aber es fühlte sich richtig an.
Am Abend war ich dann PC-Erfasser, denn bei uns ist das Wählen ein so feines Unterfangen, dass ich jeden Sitz in den kommunalen Gremien einzeln hätte vergeben können, was den Prozess der Auszählung so kleinteilig machte, dass es von Hand kaum stemmen gewesen wäre. Das Erfassen der Stimmzettel hielt mich größtenteils erfolgreich davon, schon frühzeitig entsetzt zu sein. Traurig kam über Nacht und wollte nicht mehr gehen.
Allein die Erinnerung daran, mit Dutzenden Wählenden in einem Raum gestanden zu haben, von denen jede*r Vierte kein Problem damit hatte eine Partei zu wählen, die mir die Grundrechte nehmen und meine Kolleg*innen und Freund*innen deportieren würde, wenn sie es nur könnte … sie lässt mich innerlich noch immer ganz taub werden, nur ohne das angenehme Kribbeln eingeschlafener Füße.
„Queer zu sein, homosexuell, bisexuell, inter, nonbinär, trans zu sein, bedeutet für mich zunächst und vor allem, sich selbst nicht belügen zu können.“
So kann auch ich mich nicht belügen, dass das alles nur halb so wild wäre, und dass das nur eine Protestwahl wäre. Was jede*r Vierte gewählt hat, das war kein Protest. Vor zehn Jahren hätte ich es euch noch durchgehen lassen, als diese Partei noch eine andere war. Wer wählt schon aus Protest anderen ihre Grundrechte ab?
Ich kann mich nicht belügen, dass diese als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtete Partei ab jetzt aber so richtig entzaubert wird, während wir sie Tag für Tag in den Debatten halten und peu à peu ihre menschenverachtenden Begriffe und Bilder in unseren Sprachgebrauch übernehmen.
Ich kann mich nicht belügen, dass das jetzt der Wendepunkt wäre, an dem wir alle kollektiv aufwachten und das Maul aufmachten und widersprächen, wann immer es nötig wäre. Das schaffe ich ja selbst nicht einmal, wo doch jedes bisschen Widerspruch und jedes bisschen Sichtbarkeit das Verlassen der eigenen Deckung bedeutet und ich nur höchst ungern im Sturm stehe ohne die Sicherheit zu haben, dass ich nicht fallen werde.
Ich bin die Rampensau, die sich nicht traut, der Mann in der zweiten Reihe, der den Schubs nach vorne braucht, und doch würde ich mich gerade mehr denn je dagegen stemmen, wenn mich jemand von hinten in die erste Reihe schieben wollte.
Aber es hilft ja nix. Heute war die Zeit zum Trauern. Ab morgen muss ich diejenigen verteidigen, die bis heute schützend vor mir standen. Es wird nicht schön werden, aber vielleicht wird es danach wieder besser.