Kategorien
gedacht

Montag, 10. Juni 2024 – Keine Publikumsbeschimpfung

Kann es einen bes­se­ren Tag als den Tag nach ges­tern geben, um als alter Weißer Mann anzu­fan­gen unge­fragt sei­ne unsor­tier­ten Gehirnfürze ins Internet zu pus­ten? … Man muss nicht jede Frage beant­wor­ten, und ich als jener, der sich hier gera­de selbst einen alten Weißen Mann nann­te, selbst wenn er sich mit die­ser Beschreibung nur unzu­rei­chend getrof­fen sieht, schon ein­mal gar nicht. Das lie­fe der Charakterisierung zuwider.

Viel lässt sich über den heu­ti­gen Tag ohne­hin nicht sagen, was nicht ohne Worte über den gest­ri­gen Tag aus­kä­me. Ich war wäh­len, what else. Das Mindeste, was ich tun konn­te in die­ser Demokratie, das größ­te Privileg von allen. Zu sagen, es fühl­te sich gut an, wäre über­trie­ben, aber es fühl­te sich rich­tig an. 

Am Abend war ich dann PC-Erfasser, denn bei uns ist das Wählen ein so fei­nes Unterfangen, dass ich jeden Sitz in den kom­mu­na­len Gremien ein­zeln hät­te ver­ge­ben kön­nen, was den Prozess der Auszählung so klein­tei­lig mach­te, dass es von Hand kaum stem­men gewe­sen wäre. Das Erfassen der Stimmzettel hielt mich größ­ten­teils erfolg­reich davon, schon früh­zei­tig ent­setzt zu sein. Traurig kam über Nacht und woll­te nicht mehr gehen.

Allein die Erinnerung dar­an, mit Dutzenden Wählenden in einem Raum gestan­den zu haben, von denen jede*r Vierte kein Problem damit hat­te eine Partei zu wäh­len, die mir die Grundrechte neh­men und mei­ne Kolleg*innen und Freund*innen depor­tie­ren wür­de, wenn sie es nur könn­te … sie lässt mich inner­lich noch immer ganz taub wer­den, nur ohne das ange­neh­me Kribbeln ein­ge­schla­fe­ner Füße.

„Queer zu sein, homo­se­xu­ell, bise­xu­ell, inter, non­bi­när, trans zu sein, bedeu­tet für mich zunächst und vor allem, sich selbst nicht belü­gen zu können.“ 

Carolin Emcke

So kann auch ich mich nicht belü­gen, dass das alles nur halb so wild wäre, und dass das nur eine Protestwahl wäre. Was jede*r Vierte gewählt hat, das war kein Protest. Vor zehn Jahren hät­te ich es euch noch durch­ge­hen las­sen, als die­se Partei noch eine ande­re war. Wer wählt schon aus Protest ande­ren ihre Grundrechte ab?

Ich kann mich nicht belü­gen, dass die­se als rechts­extre­mis­ti­scher Verdachtsfall beob­ach­te­te Partei ab jetzt aber so rich­tig ent­zau­bert wird, wäh­rend wir sie Tag für Tag in den Debatten hal­ten und peu à peu ihre men­schen­ver­ach­ten­den Begriffe und Bilder in unse­ren Sprachgebrauch übernehmen.

Ich kann mich nicht belü­gen, dass das jetzt der Wendepunkt wäre, an dem wir alle kol­lek­tiv auf­wach­ten und das Maul auf­mach­ten und wider­sprä­chen, wann immer es nötig wäre. Das schaf­fe ich ja selbst nicht ein­mal, wo doch jedes biss­chen Widerspruch und jedes biss­chen Sichtbarkeit das Verlassen der eige­nen Deckung bedeu­tet und ich nur höchst ungern im Sturm ste­he ohne die Sicherheit zu haben, dass ich nicht fal­len werde.

Ich bin die Rampensau, die sich nicht traut, der Mann in der zwei­ten Reihe, der den Schubs nach vor­ne braucht, und doch wür­de ich mich gera­de mehr denn je dage­gen stem­men, wenn mich jemand von hin­ten in die ers­te Reihe schie­ben wollte. 

Aber es hilft ja nix. Heute war die Zeit zum Trauern. Ab mor­gen muss ich die­je­ni­gen ver­tei­di­gen, die bis heu­te schüt­zend vor mir stan­den. Es wird nicht schön wer­den, aber viel­leicht wird es danach wie­der besser.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert