Wie privilegiert ich doch bin, mit dem Rad in fünf Minuten einkaufen fahren zu können, und das auch noch bis 21 Uhr. Wieviel privilegierter ich nur wäre, wäre ich diese tausend Meter mit dem Auto zurücklegen könnte. Wieviel privilegierter ich dann noch wäre, wenn ich sämtliche Konsequenzen dessen ausblenden könnte. Vielleicht wäre es mal Zeit für ein gesamtgesellschaftliches „Check your privileges“ vor der nächsten größeren Entscheidung zu treffenden Entscheidung.
Wenn es nur nicht so unangenehm wäre. Wer will schon gerne hören, dass es nicht ohne Verzicht geht, wenn wir noch eine lebenswerte Zukunft haben wollen? Und wer glaubt so ohne Weiteres, dass manches gar kein Verzicht, sondern sogar ein Gewinn wäre? Wie leer doch die Straßen wären für diejenigen, die aufs Auto wirklich angewiesen sind, weil selbst ein gut ausgebauter ÖPNV Grenzen kennt. Wie wenig Zeit man nach der Arbeit auf Ergotrainern verbringen müsste, wenn der Arbeitsweg schon mit dem Rad zurückgelegt worden wäre. Wie günstig das Heizen doch wäre, wenn die Energie dafür auf dem eigenen Dach gewonnen würde, anstatt vom Oligopol weniger Gasproduzenten abhängig zu sein. Wie schön es doch für alle wäre, wenn die Nachbarn ohne Angst ihre Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen leben könnten anstatt jedes Mal das Umfeld abzuchecken, bevor sie zu ehrlich werden.
Man wird ja noch einmal träumen dürfen. Aber für manche Träume lohnt es sich zu streiten und Flagge zu zeigen und anderen (und sich selbst) den Spiegel vorzuhalten.
Auf morgen bin ich sehr gespannt. Wir als Betriebsrat wollen uns der Belegschaft mal wieder ein bisschen präsenter ins Gedächtnis rufen und auch ein wenig erklären, wofür wir eigentlich gut sind. Dazu feilen wir aktuell an ein paar Texten. Was man halt so tut, wenn das primäre Kommunikationstool in der Firma ein Instant-Messaging-Dienst ist. Genauer: Ich hab da mal ein bisschen was formuliert, wie ich das öfter mache, wenn ich mit den bisherigen Vorschlägen nicht zufrieden bin, oder wenn ich etwas anleiern will.
Jetzt steht da die Aussage „Betriebsrat ist Antifa!“ im Raum, und erwartbarerweise war es das erste, was Widerrede erfuhr; nicht in der Sache, aber im Ton. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich den Satz aufgeben will. Ich glaube, dass er aktuell wichtiger denn je ist, und dass es aktuell wichtiger denn je ist, den Begriff „Antifa“ zurückzuerobern von den Akteuren von der Mitte bis nach ganz rechtsaußen, die ihn synonym mit Linksextremismus verwenden und damit das Streiten für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung zu etwas Anrüchigem zu machen versuchen.
Da schlagen also zwei Herzen nun in meiner Brust: Einerseits will ich als Betriebsrat hinter der Mehrheitsentscheidung stehen und sie vertreten können, selbst wenn ich in der Minderheit enden sollte, denn wir sind ein Team. Andererseits fiele es mir entscheiden leichter, wenn ich in diesem Fall die Mehrheit hinter mir hätte.
Warum sollten wir nicht auch mal polarisieren dürfen? Viel tragischer finde ich, dass diese Formulierung polarisieren dürfte.